V. Bönninghausens Behandlung der Trunksucht



Die
 wirkliche Trunksucht (Philoposia)“ ist „diejenige Krankheit, deren Wesen in dem moralischen und physischen Bedürfnis liegt, dem Laster des Trunkes jedesmal aufs neue zu frönen, sobald der vorhergegangene Rausch verflogen und nun eine Erschlaffung des Geistes und des Körpers eingetreten ist, welche den Säufer unwiderstehlich zur Erneuerung des Genusses geistiger Getränke nötigt, indem er nur allein hierdurch, wie er aus Erfahrung weiss, einige, wenngleich nur vorübergehende Erleichterung seines jammervollen und unerträglichen Zustandes erwirken kann...

Bei fortgeschrittener Trunksucht wird es zur Unmöglichkeit, den Zustand der Nüchternheit zu ertragen und gleichzeitig ist die Willenskraft gelähmt, um anfängliche Opfer zu bringen, und damit aus dem Teufelskreis heraus zu kommen.

...hier hat also der Arzt eine doppelte Aufgabe zu lösen, nämlich einmal das körperliche Befinden zu bessern, und dann eine Art von Widerwillen gegen geistige Getränke überhaupt hervorzurufen. In ersterer Beziehung, nämlich zur Heilung der körperlichen Säuferkrankheit, steht ohne Zweifel der Mohnsaft (Opium) als Heilmittel an der Spitze aller hierher gehörigen Arzneien. Die Ergebnisse der Prüfung dieses äußerst kräftigen Stoffes liefern uns ein Bild dieser Krankheit in einer Vollständigkeit, wie kein anderes, sowohl in Bezug auf den Geist, wie auf den Körper. Bei anfangenden Säufern lassen sich daher auch durch wiederholte Anwendung dieses Mittels allein schon große Erfolge erzielen, indem in solchen Fällen dasselbe für sich allein schon hinreichend ist, nicht nur die üblen Folgen des Rausches auszulöschen, sondern auch eine Art von Widerwillen gegen geistige Getränke überhaupt beizubringen.....Es ist daher auch dem Verfasser in zahlreichen Fällen gelungen, Personen, die bereits zur Klasse der habituellen Säufer gezählt werden durften, lediglich mit der Tinctura Opii simlex, zu 2 oder 3 Tropfen für die Gabe, ihnen selbst unbewusst (weil solche Subjekte sich meistens gegen alle Arznei sträuben) im gewohnten Frühstückskaffee von ihrer verderblichen Leidenschaft zu befreien.[1]

Aber der fortgesetzte Gebrauch der Tinkt. Opii ist zum einen gesundheitsschädlich, und zum anderen lässt die Wirksamkeit immer mehr nach, je länger sie angewendet wird, und ist deshalb für Gesellschafts- und Gruppentrinker nicht geeignet.

V. Bönninghausen rät bei fortgeschrittener Trunksucht oder Gesellschaftstrinkern, d.h. Gruppentrinkern:

...Unter diesen zuletzt erwähnten, nicht eben selten vorkommenden Umständen ist es nötig, ein diätetisches Mittel zu Hilfe zu nehmen, und zwar ein solches, welches, längere Zeit mit Beharrlichkeit fortgesetzt, den Abscheu gegen geistige Getränke [und besonders gegen Branntwein[2]] immer mehr und mehr steigert, ohne auch nur im Mindesten der Gesundheit irgend einen Nachteil zu bringen. - Dieses Mittel ist die Milch ! [sowohl süße, als auch gesäuerte][3]

Jeder Homöopath weiß (oder muss es wissen), dass die meisten Arzneien, welche eine Neigung zu geistigen Getränken unter ihren Zeichen zählen, eben auch solche sind, welche Abscheu gegen Milch oder Beschwerden vom Genusse derselben bewirken, und umgekehrt. Wir wissen dies vermöge der Erfahrung mit Bestimmtheit von: Arn, Ars, Bov, Bry, Calc, Carb-v, Chin, Ign, Lach, Merc, Nat-m, Nux-m, Nux-v, Puls, Rhus-t, Sep, Sil, Sulf und Sulf-ac; und von noch einigen anderen haben wir guten Grund es zu vermuten.[4]

...Aus diesen hier eben vorgetragenen Erfahrungen ergibt sich von selbst die zweckmäßigste und erfolgreichste Behandlung der mit dem Wort Philoposie bezeichneten Krankheit.[5]

Zuvörderst nämlich tilge man durch kleine, aber wiederholte Gaben Mohnsaft (Opium) die bereits durch das fragliche Laster im Organismus angerichteten Störungen. Dies lässt sich, wenn das Übel nicht schon überaus lange gedauert hat und dadurch sehr eingewurzelt ist, in gar nicht langer Zeit erreichen. Dann aber verordne man ihm Milch zur Hauptnahrung, und zwar je öfter im Tage, desto besser, sowohl in Suppen, anstatt Kaffees, als auch zum ausschließlichen Getränk. Den anfänglichen Widerwillen dagegen hat entweder schon der Mohnsaft getilgt, oder es reichen einige kleine Gaben Ign [In einer Anm.: unentbehrlich in Fällen, wo bei Nüchternheit Gram, Kummer und Selbstvorwürfe kommen, um diese Heilungshindernisse zu beseitigen][6] dazu hin. Allmählich aber wird er immer mehr und mehr Geschmack an diesem gesunden Nahrungsmittel bekommen, und in demselben Maße wird das Verlangen nach geistigen Getränken sich verlieren, bis nach Ablauf von wenigen Wochen sich ein wahrer Ekel gegen Wein und Branntwein einstellt, und der nun moralisch und körperlich Gerettete wieder ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft geworden ist.[7]

  Nach homöopathischer Beseitigung der krankhaften Beschwerden, die das Delirium tremens
 begleiten (nach v. Bönninghausen gewöhnlich und meistens in nicht langer Zeit durch Verabreichung von Op, Nux-v, Bell, Hyos oder Stram, in selteneren Fällen auch noch durch Anac, Aur oder Thuj):

Dann aber wird sich der Kranke, welcher nun wenigstens dahin gelangt sein wird, den ganzen Umfang des, von seiner unseligen Leidenschaft abhängigen Unglücks zu übersehen, unverweigerlich der strengsten Milchdiät gern unterziehen, und zwar, wo möglich, in der Ausdehnung, dass alle flüssigen Nahrungsmittel, welche er von früh bis abends zu sich nimmt, lediglich aus Milch bestehen. Bei solcher diätetischen Lebensweise gelangt er schon in wenigen Wochen dahin, dass ihn jede Art von geistigen Getränken förmlich anwidert, und dass er, wenn dazu genötigt, nur mit der größten Überwindung und mit sichtlichem Ekel ein Glas davon herunterwürgt. Nur dann erst darf man sagen, dass der Trunksüchtige vollständig und dauerhaft von seiner leidigen Krankheit geheilt ist.[8]

Als noch weitere Möglichkeit berichtet v. Bönninghausen:

In Schweden bedient man sich eines etwas barbarischen, aber übrigens wahrhaft homöopathischen Mittels gegen die Trunksucht. Solche Subjekte werden nämlich eingesperrt und erhalten keinerlei Speisen oder Getränke, welche nicht mit Branntwein versetzt sind. Nach Verlauf von 4 oder 5 Tagen schon verlassen sie ihr Gefängnis vollständig geheilt, indem der mindeste Branntwein-Geruch sie anwidert und Ekel erregt.[9]


 

[1] KMS 651 652 (1860)
[2] AHP 343 (1863)
[3] KMS 653(1860)
[4] KMS 653 (1860)
[5] KMS 655 (1860)
[6] gemäß Dunham-Nachtrag in BBCR 1905, S. 345, ist Ign neben Sil das einzige Mittel im höchsten Grad bei „Abneigung gegen Milch“
[7] KMS 655 656 (1860)

[8] AHP 460 461 (1863)

[9] AHP 459 Anm. (1863)


V. Bönninghausens Behandlung Betrunkener



Bei Bierrausch:
 - vorausgesetzt, dass das Bier rein und nicht mit arzneilichen Stoffen verfälscht und vergiftet war, - reichliches Trinken von (chinesischem) Tee, und nachher, nach Maßgabe der Zeichen, entweder Rhus-t oder Nux-v.

Bei Branntweinrausch: Trinken von Salzwasser, und später Puls.

Bei Weinrausch: zuerst eine bittere Mandel, und darauf Nux-v, wenn nicht nach Säure enthaltendem Wein das Ant-c den Zeichen besser entspricht.[1] 

Bei Vollrausch: [Notfallmaßnahmen und Notarzt !]

Nur in dem Falle, wo der Betrunkene daliegt mit dunkelrotem Gesicht, stieren Augen und Zuckungen in den Gesichtsmuskeln, da gebe man alle Viertelstunden abwechselnd Opium und Belladonna, bis er sich erholt, und dann dasjenige, was die Symptome verlangen.[2]  

    

Bei Verlust der Sprache, dunkelrotem, oft schweißtriefendem Gesicht, stieren Augen, Zuckungen um den Mund, laut schnarchendem Atemholenund dergleichen mehrere Symptome, welche bei solchen Subjekten in diesem Zustand der höchsten Trunkenheit vorkommen, und sehr häufig mit einem apoplektischen Tod enden. Nur durch schnell (alle 1/4 oder 1/2 Stunde) wiederholte kleine Gaben Opium, worin sich alle diese Symptome aufs Deutlichste abspiegeln, kann die hier drohende Lebensgefahr bald beseitigt werden. Das Fieber endlich, welches dann meistens hinterher noch einzutreten pflegt...ist in der Regel von der Art, dass Acon oder Bell, oder wohl Stram dasselbe am ersten beseitigen, und den früheren Normalzustand wieder herstellen.[3] [Nicht kursive Hervorhebungen durch den Bearbeiter]

Im ersten Fall [bedeutender Rausch von einmaligem großem Übermaß an Alkohol] liegt der Betrunkene oft ganz besinnungslos und über und über kalt da, wie eine Leiche, und dies ist der Zustand, wo zur Rettung desselben das reichliche Begießen mit sehr kaltem Wasser zu Anfang allen anderen Mitteln vorzuziehen ist. Wenn dies aber keine genügende und andauernde Hilfe bringt, und besonders dann, wenn dabei das Gesicht rot und die Augen starr werden, so muss Mohnsaft, zuweilen auch Acon und Bell, zur Anwendung gezogen werden. Die oft beim Erwachen aus dem Rauschschlaf noch vorhandenen Beschwerden sind meistens von der Art, dass sie am besten durch Nux-v oder Carb-v beseitigt werden können. Weit schlimmer ist es, wenn sich in Folge habitueller Befriedigung der eigentlichen Trunksucht der Säuferwahnsinn (delirium tremens) eingestellt hat. Hier hat das Übel nicht nur die Natur einer chronischen (Arznei-) Krankheit angenommen, sondern setzt auch der Heilung ein schwer zu beseitigendes Hindernis in dem steten Bedürfnis des Trinkens entgegen... [Dagegen ist die oben beschriebene Behandlung der Trunksucht anzuwenden]


...Es versteht sich von selbst, dass zuvörderst die krankhaften Erscheinungen, welche das delirium tremens begleiten, arzneilich beseitigt werden müssen,... [meistens durch Op, Nux-v, Bell, Hyos oder Stram, in selteneren Fällen durch Anac, Aur oder Thuj, s.o.][4] [Nicht kursive Hervorhebungen durch den Bearbeiter]


 

[1] KMS 650 (1860)

[2] KMS 650 (1860)

[3] AHP 277 278 (1863)

[4] AHP 459 460 (1863)