Anamnese

 

 

Die Durchführung und schriftliche[1] Aufzeichnung der Anamnese ist von großer Wichtigkeit und schwierig: Ein ungenügend aufgenommenes Krankheitsbild ist am häufigsten die Ursache für eine falsche Mittelwahl. Die Aufnahme eines genau und scharf gezeichneten, aber von allem Überflüssigen entledigten und trotzdem genügenden Krankheitsbildes ist weit schwieriger, als die nachfolgende Mittelwahl.[2] Denn dazu gehört eine vollständige Bekanntschaft, wenigstens mit den Hauptwirkungen und Eigentümlichkeiten der Arzneien:

 

"...eine vollständige Kenntnis der individuellen Arznei-Kräfte, verbunden mit der, eben nur hierdurch und durch längere Übung erlangten Fähigkeit der Erforschung der jedesmal maßgebenden Zeichen..."[3] [ Nicht kursive Hervorhebung durch den Bearbeiter ]

 

Ein einziges gut ermitteltes Symptom, das gewiss einem nämlichen Mittel zugehörig ist, sagt dabei mehr aus als hundert Beschwerden, wie man sie oft von vielen Kranken hört. Es ist also eine große Kunst, die man nur durch lange Praxis, verbunden mit der vollkommensten Kenntnis jedes Mittels erwirbt, ein kurzgefasstes, aber vollständig genügendes Bild einer Krankheit zu entwerfen. Eifrige Quellenstudien, nicht von Repertorien und von Auszügen, besonders ein sorgfältig geführtes Krankenjournal, wie es Hahnemann jedem wahrhaften Homöopathen abverlangt hat, können nach und nach zum Erwerb dieser Fähigkeit führen.[4]

 

Die kleinen, für den Kranken oft unwesentlichen Nebenbeschwerden, sind bei den chronischen Krankheiten oft am sonderlichsten und sehr charakteristisch, und für die Mittelwahl häufig entscheidend.[5] Nur der tüchtige Homöopath besitzt die Fähigkeit bei der Anamnese möglichst charakteristische Symptome an die Oberfläche zu bringen.[6] Selbst im Prodromalstadium einer Krankheit, bei Ermattung und Kraftlosigkeit, lassen sich – nach v. Bönninghausen – oft mit Hilfe der Krankheitsursache und den Modalitäten der Ermattung und Kraftlosigkeit noch Mittel wählen.[7]

 

Die Festigkeit, kurze, aber völlig hinreichende und um so leichter zu übersehende Krankheitsbilder aufzustellen, erlangt man nur durch längere Übung und am besten dadurch, dass man sich bemüht, sogleich bei der Untersuchung die Wichtigkeit [gemäß § 153 Organon] jeder Angabe zu erkennen, um danach die Aufzeichnungen zu modifizieren.[8]

 

Bekanntlich sollte man nicht schon während der Anamnese ein bestimmtes Mittel im Kopf haben und damit durch suggestive Fragen die Anamnese verbiegen[9] und (sogenannte) Hypochondristen und Hysterische nicht in ihren wortreichen Klagen unterbrechen, da sie sonst noch mehr auf Abwege kommen, die dann noch mehr auf Irrwege (bei der Mittelwahl) führen.[10]

 

Wohltuend unterscheidet sich die Anamnese nach v. Bönninghausen in ihrem geringeren Umfang von der Anamnese, wie sie bei Bearbeitung nach Kent meist verfasst wird. Während letztere sich auf die Symptome des ganzen Lebens des Patienten erstreckt, wird bei der Anamnese nach v. Bönninghausen vor allem die Gegenwartssymptomatik erfasst, und, mit Einschränkung, auch die Zeit seit Bestehen des Hauptsymptoms, d.i. das Symptom oder die Symptomengruppe, weswegen der Patient zum Behandler kommt. Hat sich aber die Symptomatik in dieser Zeit geändert, ist die derzeitige, aktuelle Symptomatik zu verwenden:

 

Sehr oft ist es der Fall, dass Beschwerden durch Umstände hervorgerufen wurden, die unbekannt und gar nicht mehr zu ermitteln sind. Da müssen bloß die Symptome aushelfen, und namentlich die, welche eine Verschlimmerung oder Besserung bedingen, und die auch ohnedem jederzeit an Wichtigkeit für die Mittelwahl die, übrigens beachtenswerten veranlassenden Ursachen weit übertreffen. So gibt es auch Beschwerden, die ursprünglich durch Kälte entstanden sind, die aber später durch Wärme verschlimmert werden, und man würde bei der Behandlung einen großen Fehler begehen, wenn man die Arznei mehr der Causa, als dem Effectus anpassen wollte.[11]

 

Selbstverständlich werden aber auch bei einer Anamnese nach v. Bönninghausen die wichtigsten Momente der ganzen Vorgeschichte erfasst und bei chronischen Krankheiten möglichst die vorhandenen und die derzeit aktiven Miasmen[12].

 

Das vollständige Krankheitsbild umfasst a) die Krankheitsform[13] (nicht bloß der Name!) und b) das Individuelle. Nach der Krankheitsform wird zuerst eine starke Vorauswahl gemacht und mit Hilfe des Individuellen, und zwar der Krankheit und des Kranken[14], innerhalb dieses Mittelpools differenziert. V. Bönninghausens Krankenjournale sind ursprünglich so eingerichtet. Später ersetzt die Rubrik „Krankheitsbild“ die beiden Rubriken „Krankheitsform“ und „Individuelles“. Die Krankheitsform bleibt meistens während der Behandlung der Hauptsache nach gleich, das Individuelle ändert sich oft.[15]

 

Zur unentbehrlichen Charakteristik eines Krankheitsbildes gehören die Modalitäten nach Zeit, Lage und Umständen und der Gemüts- und Geisteszustand, und zwar besonders die Veränderungen dieser letzteren während der Krankheit. Wo diese Zeichen des Gemüts und der Modalitäten nicht hinreichend zutreffen, ist das, wenn auch sonst scheinbar passende, Mittel falsch. Im Verlauf der Kur ändern sich diese Zeichen des Gemüts und der Modalitäten am frühesten und erheblichsten, und bringen dann meistens auch andere Mittel in die Wahl.[16] Weitere wichtige Bestandteile der Anamnese und bei der Mittelwahl sind z.B. die veranlassende Ursache bei akuten Krankheiten und wie gesagt, das zu Grunde liegende Miasma bei chronischen Krankheiten[17] sowie der Einfluß der Bewegung und der Ruhe auf die Erhöhung der Beschwerden.[18]

 

[1] ausdrücklich auch im Organon (V) verlangt (§§ 83, 84, 85, 86, 90, 91, 102, 104) KMS 745 747 748 752 755 760 761 762 763 768 773 (1863)

[2] KEU XVIII XIX (1860) AHP 413 414 (1863)

[3] AHP 4 (1863) ähnlich: AHP 216 Anm. 412 413 414 (1863)

[4] KMS 673 674 Anm. (1860)

[5] Organon V § 95 in KMS 758 759 (1863)

[6] KEU XVII (1860)

[7] AHP 70 (1863)    

[8] KMS 748 749 (1863)

[9] KMS 750 751 (1863)

[10] KMS 762 (1863)

[11] AHP 303 (1863)

[12] KMS 759 (1863) 730 (1862) 788 (1864)    

[13] z.B. „Phthisis schleimiger Art mit Blutgerinnseln“

     [14] VHA IX (Oktober 1835) AHP 249 (1863)

     [15] VHA VII-XI (Oktober 1835)

     [16] KMS 751 752 (1863)

     [17] KMS 756 757 (1863)

     [18] KMS 734 735 (1862)


 

Ø Die Anamnese sollte natürlich schriftlich erfolgen.

Ø Ein ungenügend aufgenommenes Krankheitsbild ist die häufigste Ursache für eine
       falsche Mittelwahl. Bei ausbleibender Mittelwirkung sollte man ggf. die Anamnese noch
       einmal komplettieren, verifizieren u. berichtigen !

Ø Gute Materia medica Kenntnisse sind für die Erforschung der maßgebenden Zeichen und
       Symptome (diese Begriffe werden hier synonym verwandt) wichtig.

Ø Erfasst wird die Gegenwartssymptomatik plus wichtige Momente aus der Vorgeschichte, die
       für den Charakter der jetzigen Krankheit wichtig sind.

Ø Falls sich Causa und aktuelle Symptomatik widersprechen, wird die aktuelle Symptomatik
       vorgezogen.

Ø Besonders wichtige (bis unentbehrliche) Bestandteile des Krankheitsbildes sind die
       Modalitäten, der Geistes- und Gemütszustand, mit Einschränkung die Causa (bei akuten
       Krankheiten) und das derzeit aktive Miasma
.