Mittelwahl – Allgemeine Bemerkungen

 

 

V. Bönninghausen lehrt, entsprechend dem Organon, das er ein Meisterwerk[1] nennt und dessen wiederholtes Studium er auch erfahrungsreichen Homöopathen[2] ans Herz legt:

 

 

Zweierlei Krankheiten von verschiedener Beschaffenheit können nicht gleichzeitig im Organismus bestehen. Nur ähnliche Krankheiten können sich auslöschen und vollständig aufheben, während Unähnliche hingegen nur vorübergehend einander unterdrücken, so dass unter der Herrschaft der Stärkeren die Schwächere gleichsam bloß schlummert, aber nach der freiwilligen oder künstlichen Beseitigung der Ersten als eine ungeheilt noch Vorhandene wieder erwacht.[3]Wir sehen bekannter Weise jede Krankheit als eine Einheit an, die gleichzeitig keine andersartige Zweite oder Dritte neben sich aufkommen lässt, und wählen vermöge unserer genauen Bekanntschaft mit der eigentümlichen Wirkungsart unserer Mittel für den konkreten Fall Dasjenige, was der Gesamtheit der miteinander in untrennbarer Verbindung stehenden Beschwerden am meisten in Ähnlichkeit entspricht...[4]Wenn man diese verschiedenen Formen neue Krankheiten nennt,...so ist dies sicher ein Irrtum, weil der Mensch gleichzeitig nur in einer Weise krank sein kann, und alle Symptome, die dabei auftreten, nur zu einer und derselben Gesamtkrankheit gehören.[5]

 

Aus diesen Gründen werden, wie schon ausgeführt, alle Symptome der Gegenwartssymptomatik, bzw. seit dem Bestehen der Hauptbeschwerde, verwendet, sowie auch die wichtigsten Momente des ganzen Lebens des Patienten, und zwar soweit diese für den Charakter der aktuellen Krankheit von Bedeutung sind.

 

Um die Bedingung einer ausreichenden Ähnlichkeit zu erfüllen, müssen nicht nur die einzelnen (zumindest die charakteristischen) Symptome der Arznei den Krankheitssymptomen möglichst ähnlich sein, sondern es sollte auch eine genügende Ähnlichkeit des ganzen Wirkcharakters der Arznei (Genius) zu dem Charakter der Krankheit gegeben sein: „...In der Tat kann auch jede Arznei für sehr viele derselben [= der verschiedenartigsten Krankheiten] das richtige Heilmittel abgeben, aber nur in solchen Fällen, wo das Charakteristische nebst ihrer individuellen Gesamt-Wirkungsart gleichzeitig genau dem des Patienten entspricht. Dieses Charakteristische in beiden Beziehungen aufzusuchen und mit einander in Einklang zu bringen, ist also die Hauptaufgabe des homöopathischen Arztes...[6]

 

 

Und anlässlich der Behandlung von Brustkrebs [ Warnhinweis!] (von der er 1863 schreibt, sie – und besonders die Heilung des schon aufgebrochenen Brustkrebses – gehöre zu den schwierigsten Aufgaben und gelinge nicht immer bzw. nur manchmal) bemerkt v. Bönninghausen: „Auch darf man ja nicht glauben, dass mit den eben angeführten Arzneien[7] die ganze Reihe der für solche Fälle anwendbaren Mittel abgeschlossen wäre, indem hier, wie überall, der Genius des Heilmittels in allen Beziehungen dem Genius der Gesamtkrankheit, wie er sich durch seine charakteristischen Symptome zu erkennen gibt, genau entsprechen muss...[8] [Nicht kursive Hervorhebungen durch den Bearbeiter]

 

 

 Diese oben zitierte „individuelle Gesamt-Wirkungsart“ einer homöopathischen Arznei ist ihr Genius[9]. Dieser kann aus der Gesamtheit ihrer Symptome[10] , vor allem der charakteristischen[11] , durch Mittelvergleich (v.a. auch bezüglich der Verwandtschaften und „Konkordanzen“ = „Übereinstimmungen“ aber auch Feindschaften)[12] und durch die Erfahrungen der Praxis als ihr spezieller Wirkcharakter erkannt werden: „...Am lehrreichsten aber sind unstreitig diejenigen Fälle, wo die Wahl schwierig war, und wo nach einem vergeblich gereichten, passend erscheinenden Mittel, ein anderes schleunig die gewünschte Besserung bewirkte. Wenn hier, was freilich nicht immer tunlich ist, die Charakteristik der Krankheit gehörig aufgezeichnet, und die Wahl der Mittel entweder von wenig deutlichen Symptomen oder von dem zweifelhaften Vorrang des einen Umstandes vor dem anderen abhängig war, so verdient schon eine dabei gemachte Erfahrung für spätere Bestätigung oder Berichtigung aufbewahrt zu werden, mehrere derselben aber geben Aufklärungen über den wahren Genius der Mittel, welche bloßes theoretisches Studieren und Räsonieren niemals geben können.[13] [Nicht kursive Hervorhebungen durch den Bearbeiter]

 

V. Bönninghausen wünscht, dass sich die Erfahrungen vieler zum Ausbau der Mittelkenntnis vereinen, durch Mitteilung geeigneter Fälle (d.h. wo die Physiognomie der Krankheit durch die berichteten Zeichen erkennbar ist) aus den jeweiligen Krankenjournalen.[14]

 

Um also den Genius der heilenden Arznei mit dem Genius der vorhandenen Krankheit möglichst genau in Einklang bringen zu können, ist zum einen ein großes Wissen bezüglich der homöopathischen Arzneien erforderlich, und zwar lieber die profunde Kenntnis weniger, als die oberflächliche Kenntnis vieler:

      So und nicht anders muß,... die reine Arzneimittellehre nicht bloß gelesen, sondern studiert werden; und erst dann, wenn der angehende Homöopath diese Schule fleißig und beharrlich durchgemacht hat, wird er im Stande sein, ohne die, großenteils nur unvollständigen Symptome zusammen zu `buchstabieren´, mit Sicherheit für jeden Fall das passende Heilmittel aufzufinden.[15] und (in Bezug auf den erweiterten Wirkungskreis von Hochpotenzen – siehe später): „Darum suchen wahrscheinlich so viele Homöopathen fortwährend nach neuen Arzneimitteln und wenden diese, deren speziellen Kräfte noch beinahe unbekannt sind, oft an, wohingegen die alten Homöopathen, bereits reich an Erfahrungen, in einer kleinen Zahl wohlbekannter, gründlich studierter und bis zum höchsten Grad potenzierter Arzneimittel alles fanden, was sie brauchten, und Leiden heilten, die die ersteren nicht zu bezwingen vermochten.[16]

 

Zum anderen muss der Genius der aktuellen Krankheit möglichst genau erfasst werden, was allerdings leider – aus den verschiedensten Gründen – nicht nur bei einseitigen Krankheiten, nicht immer möglich ist. Der Genius und die wahre Natur der aktuellen, akuten oder chronischen Krankheit kann aus den vorhandenen Symptomen, v.a. aus den charakteristischen (s.o.) aber auch teilweise nur anamnestisch[17] erkannt werden. „Denn der wahre Genius einer jeden Arznei, wie er aus dessen speziellen Erstwirkungen erkannt werden muß, bleibt sich ziemlich gleich bei allen, oder doch den meisten Krankheiten, die sie zu heilen vermag, selbst dann, wenn die Symptome nichts davon ausdrücklich besagen oder nur undeutlich darauf hinweisen.[18]

 

Hier sind auch v. Bönninghausens Erfahrungen bezüglich der Nosoden wichtig: „Nur in Betreff der sogenannten isopathischen Mittel...daß...man vermutlich erst dann den größten Erfolg davon sehen wird, wenn man sie da anwendet, wo die Krankheit, von welcher das Mittel entnommen wurde, ehedem da war, nun aber verschwunden und statt dessen eine andere Krankheitsform entstanden ist. ... namentlich bei alten chronischen, durch vielfältige, nicht heilende, (ich möchte sagen: heillose) Arzneien immerfort veränderte und verschlimmerte Krankheiten.[19] und „So wenig die sogenannten isopathischen Arzneien auszurichten scheinen, so lange noch das ursprüngliche Leiden besteht, so wohltätig wirken sie oft, wenn jenes verschwunden und statt dessen andere und, wie gewöhnlich, weit schlimmere Beschwerden entstanden sind.[20] Die Umwandlung einer früheren Krankheit in eine spätere, andere Krankheitsform kann sowohl im Leben des Patienten stattgefunden haben als auch durch Vererbung entstanden sein (= Anmerkung des Bearbeiters).

 

Auch der Beginn und Verlauf einer Krankheit (z.B. eine Gehirnentzündung im Verlauf einer Pneumonie) gehört zu ihrem, bei der Mittelwahl zu berücksichtigenden Charakter.[21]

 

▶  Bei der Mittelwahl bedürfen die Prüfungssymptome öfters einer „größeren oder geringeren Vervollständigung aus der Charakteristik des Mittels, um genau zu passen [Hervorhebung durch den Bearbeiter], außerdem dürfen Nachwirkungen, die übrigens zum Teil nicht als solche bezeichnet sind, für die Mittelwahl nicht verwendet werden.[22]

 

Die zuletzt auftretenden Prüfungssymptome sind für die Heilanwendung die wichtigsten und weit davon entfernt, bloße Nachwirkungen und in der Therapie unbrauchbar zu sein.[23]

[V. Bönninghausen verweist dabei auf C. Hering als ersten, der hierauf aufmerksam gemacht hat. Möglicherweise ist damit Herings „Sendschreiben an die Versammlung homöopathischer Ärzte in Magdeburg, am 10. August 1844“, enthalten in „Neues Archiv für die homöopathische Heilkunst“ 1. Band, 3. Heft, S. 161 ff (1844), gemeint, worin Hering den Lehrsatz aufstellt: „Je langwieriger und bleibender, und je gegenteiliger diese späten Wirkungen sind, um so brauchbarer sind sie für den Arzt"[24]. An dieser Stelle drückt C. Hering zwar die Wichtigkeit der bei der AMP spät erscheinenden Symptome aus, meint aber damit zunächst durchaus sogenannte Nachwirkungen: „Während ich seitdem fortfuhr die allerentschiedensten Nachwirkungen jedes Mittels bei Heilungen zu benutzen, und immer mehr einsah, daß dadurch die allerdauerhaftesten Heilungen bewirkt werden konnten, hat man in den verschiedenen Schriften fortgefahren die Nachwirkungen für unbrauchbar zu halten und vermutungsweise zu bestimmen, welche Symptome dergleichen Nachwirkungen seien; hat auch fortgefahren von der Nachwirkung als einer Reaktion zu sprechen, und gleichsam eine direkte und indirekte Heilung statuieren wollen...“[25] Hering führt dann allerdings weiter aus: „Denn alle Heilung wird bedingt durch eine Art Neutralisation der Krankheit, nicht aber durch eine Reaktion des Lebens...Gibt es aber keine solche Reaktion, so gibt es auch keine ihr angehörigen Nachwirkungen; gibt es keine solche Nachwirkungen, so müssen wir das bisher dafür gehaltene als Wirkung und als brauchbar anerkennen.“[26] Was nun der Aussage v. Bönninghausens sehr nahekommt. Hering kommt dann in der Folge zu dem Schluss, dass sich bei Prüfung niedriger Potenzen die Zeichen der ersten und der letzten Tage der AMP oft gegensätzlich, ähnlich den Wechselwirkungen, verhielten, während bei Prüfung höherer Potenzen dieser Unterschied nicht wahrzunehmen war, sondern diese höheren Potenzen erzeugten von vorne herein Symptome, die mit denen der niedrigen Potenzen in den letzten Tagen der AMP identisch waren. Die durch Prüfung höherer Potenzen entstehenden Zeichen seien weit zahlreicher und bezeichneten den Charakter des Mittels weit schärfer, als die Primärwirkungen der niedrigen Potenzen. Bei der AMP gäbe es auch viele Zeichen, die sowohl als Primärwirkung als auch gleichzeitig als Sekundärwirkung d.h. Nachwirkung der niedrigen Potenzen erscheinen, diese nennt C. Hering die Hauptzeichen des Mittels, die bei der Mittelwahl die wichtigsten seien. Die Wechselwirkungen seien weit weniger wichtig. Hering empfiehlt dann noch, bei Ähnlichkeit der Krankheitssymptome mit den Primärwirkungen der niedrigen Potenzen gebe man niedrige „Dosen“ {vermutlich: Potenzen}, bei größerer Ähnlichkeit der Zeichen des Falles mit den Sekundärwirkungen, Nachwirkungen, gebe man höhere. „...was niedere Dosen entschieden heilten, das entspricht der Erstwirkung, was höhere heilten, den Nachwirkungen, und was beiderlei Gaben heilten, das gehört zum Hauptcharakter des Mittels.“[27]

 

Als Überprüfungsmöglichkeit dieser Aussage, dass die zuletzt auftretenden Prüfungssymptome für die Heilanwendung die wichtigsten seien, empfiehlt v. Bönninghausen den Vergleich der Hinweise Hahnemanns mit den entsprechenden Prüfungssymptomen der Materia medica der CK:

 

 Er braucht nämlich nur in den vier Bänden (der zweiten Auflage) der anti-psorischen Arzneien diejenigen Symptome, welche am Spätesten beobachtet wurden, mit den kurzen Andeutungen zu vergleichen, welche von Hahnemann selbst zufolge seiner eigenen Erfahrung für die vorzügliche Angemessenheit dieser Arzneien angegeben und in unserer Praxis durchweg als solche bewährt gefunden sind. Er wird sich dann allerdings überzeugen, dass in den meisten Fällen ein Analogon dazu, häufig mit näherer Vervollständigung des Zeichens selbst, eben und oft vorzugsweise in solchen spät beobachteten Symptomen enthalten ist.[28] [Hervorhebung - im Fettdruck - durch den Bearbeiter]

 

 

Es liegt daher Grund genug vor, ernstlich dagegen zu warnen, dass man, zumal bei den langwirkenden Mitteln, wie Manche tun, die spät auftretenden Symptome durchaus nicht als Nach- oder Heilwirkung ansehen darf, eine Übereilung, die selbst nachweislich, wenngleich später meistens verbessert, Hahnemann bei einigen älteren Prüfungen sich hat zu Schulden kommen lassen, ohne es damals zu ahnen und wovon noch einige mit dieser mala nota bezeichnete Symptome stehen geblieben sind.[29] [Nicht kursive Hervorhebung - im Fettdruck - durch den Bearbeiter]

 

 

▶ DIE AM TIEFSTEN EINGEWURZELTEN KRANKHEITSERSCHEINUNGEN WERDEN AM SCHNELLSTEN, SICHERSTEN UND DAUERHAFTESTEN DURCH MITTEL (in sehr hoher Potenz und kleiner und seltener Gabe) GEHEILT, DIE "bei übrigens vollständiger Angemessenheit" IN DEN AM SPÄTESTEN BEOBACHTETEN PRÜFUNGSSYMPTOMEN DIESEN KRANKHEITSERSCHEINUNGEN ÄHNLICH SIND:

 

 

Leider fehlt diese Zeitangabe bei den Arzneiprüfungen häufig „...und wir sind genötigt, oft erst auf dem langen Wege der Erfahrung zu erlernen, was damals durch Beifügung einiger weniger Zahlen und Buchstaben so leicht ergänzt werden konnte.[30]


[1] KMS 746 (1863)

[2] KMS 445 Anm. (1854)

[3] AHP 348 (1863) ähnlich: AHP 411 (1863)

[4] AHP 538 (1863)

[5] AHP 548 (1863) ähnlich: AHP 170 (1863)

[6] AHP 549 (1863)
[7] angegeben sind in AHP 406 (1863): als Hauptmittel  a) gegen szirrhöse Verhärtungen: Apis, Bell, Bry, Carb-an, Cham, Clem, Con, Graph, Puls, Rhus-t, Sabin, Sil, Sulf, und b) bei offenem Krebs: Apis, Ars, Bell, Clem, Con, Hep, Kreos, Lach, Phos, Ph-ac, Rhus-t, Sil, Sulf, Thuj.
[8] AHP 407 (1863)
[9] lat. „Geist“
[10] KMS 332 (1844)
[11] TT46 XVII XVIII (Oktober 1845)
[12] TT46 XVI (Oktober 1845) VHA 9 (1835)
[13] KMS 246 (1840)
[14] ebenfalls KMS 246 (1840)

[15] KMS 336 (1844)

[16] KMS 583 (1859)

[17] KMS 630-635 (1860) 720 721 731 (1862) 759 (1863)

[18] HA XXVII XXVIII (1853)

[19] VHA XII (1836)

[20] KMS 263 (1840)

[21] AHP 466 (1863)

[22] TT46 VI VII XXII (Oktober 1845)

[23] KMS 505 (1856)

[24] a. a. O. S. 168

[25] a. a. O. S. 167 168

[26] a. a. O. S. 171
[27] a. a. O. S. 179
[28] KMS 505 506 (1856)
[29] KMS 514 (1856)
[30] KMS 506 (1856) 514 (1856)